Nachdenklich sass Lena auf der obersten Stufe der kurzen Treppe, die zu der überdachten Holzveranda führte. Nun war das alte Landhaus ihres Grossvaters geräumt. Sie hatte den ganzen Tag damit verbracht Dinge zu durchstöbern und Anweisungen an die Männer zu geben, die die Räumung durchführten. Es war still geworden, die Sonne stand schon knapp über dem Horizont und das schnarrende Konzert der Grillen hatte bereits begonnen. Ein vertrautes Geräusch. Es versetzte Lena zurück in ihre Kindheit, wo sie die schönsten Wochen ihrer Sommerferien hier verbracht hatte. Sie hörte beinahe noch das Klackern ihrer viel zu grossen Holzschuhe, die der Grossvater für sie gefertigt hatte, wie sie über die Dielen lief. Er sagte bloss: «Du wirst schon noch hineinwachsen, meine Kleine.» Jeden Morgen, wenn der Lichteinfall der Sonne durch das Fenster ihres Dachzimmers sie geweckt hatte, ging Lena ihren Grossvater suchen. Dann lag ein neuer Tag vor ihr. Voller Geheimnisse, die sie miteinander teilten. Zumeist fand sie ihn im Stall, wo er die Pferde striegelte, was diese sichtlich genossen und er dabei mit seiner ruhigen Stimme mit ihnen sprach. Lena durfte dann jeweils die langen Haare vom Schweif und der Mähne der eleganten Tiere aus den Bürsten rauszupfen und ihr Rosshaarkissen damit stopfen. Dieses Kissen hat sie heute noch und sie würde es um keinen Preis der Welt hergeben. Ihr Grossvater hatte ihr erklärt, dass es kein besseres Material dafür gäbe und wie wichtig guter Schlaf sei. Nun war er selber eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Eine schöne und stille Art zu gehen, die gut zu ihm passte. Er fehlte ihr und es drohte damit ein zartes Band zu ihrer Kindheit zu zerreissen. Das durfte nicht geschehen. In diesem Augenblick bereute sie es sehr, dass sie ihn in den letzten Jahren nur selten besucht hatte.
Und noch etwas liebte Lena: Die Katzenmusik Konzerte, die sie in der grossen Scheune veranstalteten. Dazu benutzten sie alles, was vorhanden war: Schüsseln und Eimer, Giesskannen, auf denen man trompeten konnte, Gläser, eine alte Autohupe, Werkzeuge und einen Schlüsselbund. Ihr Publikum waren die Tiere. Nur die Hofkatze buckelte regelmässig und nahm Reissaus. Die anderen hörten aufmerksam zu, manche mit erstaunten Augen, andere mit stoischer Gelassenheit. Vor allem der alte Esel war immer begeistert und zeigte dies auch lautstark. Die von Hand geschriebene Ankündigung zu diesen Konzerten versteckte der Grossvater immer wieder an einem anderen Ort. Einmal lag der Zettel unter ihrem Kopfkissen, ein andermal in ihrem Schrank unter einem Stapel Kleider oder unter dem grossen Topf in der Küche, wo der Honig drin war, mit dem sich Lena dick bestrichene Honigbrote machte. Sie war immer ganz aus dem Häuschen, wenn sie eine dieser verheissungsvollen Ankündigungen gefunden hatte. Dann gab es für sie kein Halten mehr und sie stürmte in die grosse Scheune, wo sie der Grossvater bereits mit einem Lächeln auf dem Gesicht erwartete. Dies waren wunderbare Tage in ihrem Leben, das noch unbeschwert und voller Geheimnisse war. Warum ändert sich so vieles über die Jahre, verliert das Zauberhafte, wird nüchtern und berechenbar?
Ihr Blick schweifte über das Land und blieb an dem ruhigen Wasserspiegel des Teichs hängen, wo sich die letzten Sonnenstrahlen brachen. Früher ruderte sie oft mit ihrem Grossvater in einem kleinen Boot darauf, dessen Bugwelle das Wasser sanft zerteilte. Er erzählte ihr dann Geschichten von einer kleinen Wassernixe, die auf dem Grund des Teichs wohne und die immer wieder für eine Weile auf den Blättern der blühenden Seerosen sässe. Lena hatte sich oft im Tannengrün des nahen Wäldchens versteckt, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Leider hat es nie geklappt aber ihr Grossvater sagte immer: «Du musst nur fest daran glauben, dann wirst du sie eines Tages sehen.» Dabei schmunzelte er vielsagend. Lena sah eine Insel von blühenden Seerosen auf dem Teich schwimmen. Ob sich die kleine Nixe wohl heute zeigen würde? Sie musste lächeln. Ihr Grossvater hatte bis zuletzt sein kindliches Staunen für die Welt und ihre Wunder bewahrt.
Als sie aufstehen wollte nahm sie ein Blinken wahr. Es kam aus der Seeroseninsel auf dem Teich. Ein Flaschenhals ragte dort sachte wippend aus den Blättern. Lena zog die Flasche aus dem Wasser und hielt sie gegen die tief stehende Abendsonne. Etwas war drin. Mit einem leisen ‘Plopp’ zog Lena den Korken aus dem Flaschenhals und schüttelte eine Papierrolle aus dem Bauch der Flasche. Sie entrollte das Papier und las: «Einladung zum Katzenmusik Konzert. Ort und Datum noch unbestimmt, aber sicher.» Und dann weiter: «P.S.: Meine kleine Lena, lebe dein Leben und geniesse es. Ich bin stolz auf dich. Doch vergiss nicht zu staunen. Dein Grossvater».
Sichelförmig zeichnete sich der Mond am Himmel ab, als Lena schliesslich in ihr Auto einstieg. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihrem Grossvater, auch wenn es wohl noch ein Weilchen dauern würde. Doch sie hatten ja jetzt eine feste Verabredung.
Hinojos, 10.7.2023